Die aufregendste Schnittstelle der Welt.
Seit über 10 Jahren arbeite ich als Beraterin und systemischer Coach für Familienunternehmen in schwierigen Situationen. Übergabe, Nachfolge, Krankheit, Erbstreitigkeiten, störrische Gesellschafter oder zerstrittene Geschäftsführungen – oft ist es sehr spät, wenn sich Unternehmerfamilien eingestehen, dass sie Unterstützung brauchen.
Jedes Mal bin ich aufgeregt vor dem ersten Zusammentreffen mit einer Familie. Ich arbeite anfangs immer alleine – es gibt also vor Ort keine Möglichkeit, sich des Wissens und der Erfahrung eines anderen zu bedienen. Mein Vorwissen beschränkt sich meist auf die Firmenwebsite, manchmal angereichert um die Firmengeschichte oder die letzte Marketingkampagne. Ich werfe einen Blick auf die Website des Ortes und fliege, wenn das Unternehmen einer mir fremden Branche angehört, über die wichtigsten wirtschaftlichen Informationen der Branche, um mir einen allgemeinen Eindruck zu verschaffen. Oft stöbere ich noch in den regionalen Zeitungen.
In diesem Fall hatte mich die Tochter angerufen und um einen Termin mit ihrer Familie gebeten. Sie ist 29, Betriebswirtin mit Universitätsdiplom und mittlerweile Managerin in einem großen Konzern. Wie fast alle Unternehmerkinder früher oder später, steht sie vor der Frage: „Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um meine Karriere zu beenden und in das heimische Unternehmen einzutreten?“
Der jüngere Bruder mit FH Abschluss sei schon seit Jahren im Unternehmen, erzählt sie, der Vater sei sehr stolz auf ihn, während er gar nicht begreife, was sie als Marketingchefin eines internationalen Modekonzerns leiste. Die Mutter würde sich freuen, sie wieder in der Nähe zu haben und hoffe auf ein bisschen Entlastung in der Personalabteilung. Der Vater fände die Idee auch gut und habe ihr angeboten, jetzt erst einmal mitzuarbeiten und dann werde man sehen. Sie selbst sei unentschieden, sei aber immer davon ausgegangen, eines Tages die elterliche Firma zu übernehmen. Jetzt stünde sie vor einem weiteren Aufstieg innerhalb des Konzerns und müsse sich entscheiden, ob sie nach Hause oder in die französische Firmenzentrale wechseln solle.
In vielen dieser Erstkontakte stellt sich heraus, dass die Lebensziele der erwachsenen Kinder noch zu ungeklärt sind, um damit schon vor die Familie zu treten. In wenigen Einzelsitzungen versuchen wir dann, den eigenen Anteil an Unsicherheiten von der grundsätzlichen Frage nach dem Eintritt ins Familienunternehmen zu trennen. Vielleicht hätte ich auch in diesem Fall erst mit der Tochter alleine arbeiten sollen. Doch in ihrem Erleben hängen ihre Zweifel alleine von der familiären Situation ab. Der Vorteil, wenn man sofort mit der ganzen Familie in Kontakt tritt, ist in jedem Fall, dass die geforderte Neutralität der beratenden Person, die vielleicht besser mit „Allparteilichkeit“ beschrieben wird, von allen Familienmitgliedern erlebt werden kann und sie schneller darauf vertrauen, dass sie eine gute Lösung für alle anstreben wird.
Nach einer zweistündigen Fahrt durch den Schwarzwald nähere ich mich der kleinen Stadt, die idyllisch im Tal liegt. Wir treffen uns im Haus der Eltern in einem Neubaugebiet des kleinen Ortes.
Die Familie sitzt bereits zusammen und erwartet mich. Die Stimmung ist gespannt, aber nicht feindselig. Ich werde intensiv gemustert und es ist gut, dass ich offensichtlich erst einmal als Gesprächspartnerin akzeptiert werde. Der Sohn in Arbeitskleidung, groß, sehr angespannt, wortkarg, die Tochter eloquent, modisch, großstädtisch, die Mutter still, bieder und geschäftig. Und der Vater klein, agil, laut, bestimmend – ein Patriarch.
Die Familie entspannt sich, wir plaudern über die Situation der Maschinenbaubranche im Allgemeinen und über die Entwicklungen vor Ort im Besonderen. Mit einer Viertelstunde Verspätung trifft die Schwiegertochter ein. Darüber müssen wir später sprechen – wer gehört eigentlich dazu, wenn man über das Unternehmen spricht und wer nicht? Wo werden Entscheidungen getroffen und wie? Das sind die vorrangig zu lösenden Fragen jedes Familienunternehmens.
Die Verquickung von Besitz, Familienzugehörigkeit und Beschäftigung im Unternehmen lässt viele Grenzen verwischen. Während in der Familie die Generationszugehörigkeit ein wichtiges Unterscheidungskriterium ist, ist es im Unternehmen die Hierarchiestufe, auf der jemand handelt und im entscheidenden Gremium, der Gesellschafterversammlung wiederum zählen Besitzanteile oder Stimmenanzahl. Es kann also sein, dass eine Familienangehörige Geschäftsführerin ist, jedoch weniger Anteile besitzt als eine Cousine, die als Hausfrau kaum mit dem Unternehmen zu tun hat, in der Gesellschafterversammlung aber sehr stark auftritt und damit Einfluss nimmt auf die Zukunft der Unternehmens und den Entscheidungsspielraum der Geschäftsführerin. Oder ein Familienmitglied mit größerem Anteil arbeitet auf einer sehr niedrigen Hierarchiestufe im Unternehmen – und ein Meister muss Anweisungen geben, sehr wohl wissend, dass seine berufliche Existenz letztlich auch von diesem „Mitarbeiter“ abhängt. Man könnte noch mehr solche Fälle konstruieren – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und viele dieser schon auf den ersten Blick schwierigen Konstruktionen haben ihre Ursache in durchaus nachvollziehbaren Überlegungen oder in alten Familiengeschichten und Familienkonflikten. Trotzdem, oder gerade deshalb, produzieren sie einen hohen Reibungsverlust.
Unternehmerfamilien sind darauf trainiert, keine Informationen nach außen zu geben. Sie sind häufig der größte Arbeitgeber im Ort, die Kinder gehen mit den Kindern der Angestellten zur Schule. Sie wissen, dass sie nichts, was sie am heimischen Mittagstisch hören, weitererzählen dürfen. Auch nicht der besten Freundin. Sie stehen unter Beobachtung. Sie lernen, sowohl mit übertriebener Beachtung wie auch mit absichtlicher Missachtung zu leben. Lange schon, bevor sich die Kinder dessen bewusst sind, werden sie unter dem Aspekt „Wie der wohl mal wird…“ beäugt.
Es ist also prinzipiell klug, möglichst wenig von sich preiszugeben. Nur jetzt nicht, heute nicht. Jetzt müssen wir gemeinsam einen Weg finden, um über Dinge zu sprechen, die vielleicht nicht angenehm sind. Über die vielleicht noch nie gesprochen wurde. Aus guten Gründen sogar. Um den Familienfrieden zu erhalten, um gerecht zu bleiben, aus Angst und aus Liebe.
Ich eröffne die Runde, indem ich über meine Berufserfahrung und von meinem Großvater erzähle, der mich als Prokurist „seiner“ Unternehmerfamilie als Kind tief beeindruckt hat. In den Ferien waren wir immer die ersten in der Firma und ich durfte überall das Licht anmachen. Was ich nicht erzähle, vor ein paar Jahren war die Firma am Ende. Die Enkel der Gründer hatten keine Chance bekommen, sich zu eigenständigen Unternehmern zu entwickeln, ihr Vater war zu stark und führte das Unternehmen im Alter gegen alle Widerstände letztlich in den Ruin. Ob die Söhne es besser gemacht hätten? Die jahrelangen Versuche, sich durchzusetzen hatten sie zermürbt. Sie hätten vielleicht gehen sollen, in ihr eigenes Leben. Gut, dass mein Großvater das nicht mehr erleben musste.
Ich berichte der Familie vom Telefonat mit der Tochter, so dass alle meinen Wissensstand kennen und von vorneherein begreifen, dass es keine Geheimnisse zwischen mir und einem Familienmitglied geben wird. Zuerst ergreift der Vater das Wort, er könne es nicht glauben, dass seine Tochter immer noch nicht wisse, ob sie nun wolle oder nicht. Er hätte ihr schließlich gesagt, sie könne kommen, wenn sie das wolle. Der Sohn ergänzt, dass es ihm nichts ausmache, wenn sie mitarbeiten möchte, aber er sei schließlich schon länger im Unternehmen und sie müsse sich schon unterordnen, sonst ginge das nicht. Seine Frau wirft ein, dass er schließlich eine Familie habe und man auch daran denken solle, dass das Unternehmen nicht alle ernähren könne, vor allem nicht, wenn man sich die teuren Gewohnheiten der Schwägerin anschaue.
Unruhig rutscht die Mutter hin und her, murmelt etwas von Kaffeekochen und entschwindet in die Küche. Die Schwiegertocher geht schnell mal nach den Kindern schauen und der Bruder muss jetzt dringend telefonieren und geht dafür in den Garten. Vater und Tochter bleiben übrig. So schnell kann es gehen.
Manchmal bin ich in solchen Momenten froh, dass ich 50 bin. Menschen vertrauen leichter darauf, dass ich die Ruhe bewahre und sie auch durch heftige Diskussionen und bittere Streiterei hindurch letztlich zu einem konstruktiven Ergebnis begleite. Und ich kann besser wahrnehmen, wie viel Liebe, wie viel Bemühen hinter diesen Streitereien oder der Stummheit liegt. Sie wollen es gut machen. Die Familie hat oberste Priorität – aber wie lässt sich die Familie vom Unternehmen trennen? Ist es nicht doch letztlich untrennbar verbunden? Wenn ich alle meine Kinder gleich liebe – wie kann ich dann einem alleine die Firma anvertrauen?
Ich warte in aller Ruhe, bis sie zurückgekehrt sind, erkläre, dass wir immer erst dann weiterarbeiten werden, wenn alle wieder am Tisch sitzen. Flucht lohnt sich also nicht.
Ich frage nach, ob das häufiger passiere. Wie denn sonst so gestritten werde. Der Vater hat geringe Ausdrucksmöglichkeiten, die Tochter dafür umso mehr. Ich höre von Wutausbrüchen und Verletzungen, von dem Versuch, einfach nicht mehr zu streiten, Probleme auszusitzen. Tränen bei der Mutter, ein stummer Bruder.
Ich frage danach, was sie sich denn nun von mir erwarten und bin eher erstaunt, dass der Vater überraschend klare Worte findet. Die Tochter solle ins Unternehmen eintreten und er wolle, dass seine Kinder in fünf Jahren so gut zusammenarbeiten, dass er sich zurückziehen könne. Die anderen stimmen zu.
Ich lasse mir den Gesellschaftervertrag zeigen und den Arbeitsvertrag des Bruders, erfrage Übertragungen, Schenkungen, und die Altersabsicherung der Eltern und erkunde, wie die einzelnen Familienmitglieder den Zustand des Unternehmens bewerten. Einerseits um mir einen guten Überblick über die Situation verschaffen zu können. Und andererseits, um Informationen über das Kommunikationsverhalten der Familie zu gewinnen, Muster zu erkennen und manchmal schon zu durchbrechen, denn bisweilen sind das schon Fragen, die niemals zuvor offen gestellt wurden. Geschweige denn ehrlich beantwortet. Ein gutes Zeichen ist es, wenn die Antworten bereitwillig gegeben werden wie in dieser Familie, in der alle wussten, wer was und warum besitzt und verdient.
Sehr schwierig wird es im Allgemeinen, wenn bewusst frühere Schenkungen verschwiegen wurden oder es ganze Themenbereiche gibt, die tabuisiert sind. Dazu gehören häufig die Gründungsgeschichten oder in älteren Unternehmen die Geschichten über rivalisierende Stämme, ausgeschlossene Familienmitglieder und unsaubere Machenschaften auch in vorherigen Generationen.
Für ein erstes Treffen haben wir viel erreicht. Die Familie ist im intensiven Gespräch. Doch wie immer liegt der Teufel im Detail. Die Besitzverhältnisse der Kinder sind unterschiedlich. Das zukünftige Arbeitsfeld der Tochter lässt sich noch nicht einmal in Ansätzen beschreiben. Testamente? Nicht vorhanden und das der Tochter vom Vater angebotene Gehalt liegt erwartungsgemäß weit unter ihrem jetzigen, und leider auch erwartungsgemäß weit unter dem ihres Bruders.
Ein erstaunlich häufiges Phänomen.
Die Töchter kommen zum Zug, wenn es keinen oder zumindest keinen auch nur in Ansätzen fähigen Bruder gibt (oder die Erträge des Unternehmens deutlich zu wünschen lassen). Seltener jedoch wird sich eine Tochter gegen einen geeigneten Bruder behaupten. Auch heute noch. Obwohl die Erfahrung zeigt, dass die tiefste Angst des Seniors, nicht mehr mitgestalten zu dürfen von den Töchtern besser verstanden wird und es ihnen auch öfter gelingt, einen guten Platz für ihn im Unternehmen zu finden. Töchter stehen seltener in direkter Konkurrenz zum Vater und können ihn deshalb häufiger als qualifizierten Berater neben sich nutzen als Söhne. Natürlich nicht alle, aber auffällig viele.
Nach drei Stunden beenden wir das erste Gespräch und machen zwei Folgetermine aus. Beim nächsten Zusammentreffen, in meinen Räumen dann, werde ich einen Vorschlag unterbreiten, wie wir uns den einzelnen Themen nähern könnten. Vorher werde ich, vom Vater beauftragt, mit der Tochter die vorläufigen Rahmenbedingungen für ihren Einstieg erarbeiten. Der Vater überlegt noch, ob er nicht gleich mit an den Tisch kommen möchte. Gut wäre das, für beide.
Ich werde nach Hause fahren und die ganze Fahrt froh darüber sein, dass ich einen Beruf habe, der mir erlaubt, an der Schnittstelle Unternehmen und Familie zu arbeiten. Ich denke an die Mutter, die versucht es jedem Recht zu machen und ihre Anspannung. An die Tochter, die sich der Liebe des Vaters so unsicher ist. An den erfolgreichen Unternehmer, der so ungeschickt ist in emotionalen Belangen. Und an den Bruder, der das Streiten an seine Frau delegiert hat. Sie sind entschlossen, das Werk des Vaters fortzuführen. Sie sind stolz aufeinander und auf ihre Firma. Und sie mögen sich. Sie wollen auch in Zukunft Weihnachten und die Geburtstage miteinander feiern.
Vor ihnen liegen eine spannende, anstrengende Zeit und eine große Chance.
Sie werden einen Weg finden, den Zusammenhalt der Familie zu erhalten und das Unternehmen erfolgreich weiterführen. Doch alleine würden sie es wahrscheinlich nicht schaffen. Die Vermischung der üblichen Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern, die ein natürliches Element des Ablösungsprozesses sind, mit der Zukunft des Unternehmens ist eine schwere Belastung. Der Blick von Außen wirkt da manchmal Wunder.